Eingabe zu den Koalitionsverhandlungen für Maßnahmen zur nachhaltigen Digitalisierung

Forderungen zu Klimaverträglichkeit, Datenschutz, Bildung und Gesundheit

An die

Parteivorsitzenden und Geschäftsführer von SPD, CDU/CSU, GRÜNE und FDP
Mitglieder der Verhandlungskommissionen zum Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung
z.K. Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag

Eingabe zu den Koalitionsverhandlungen für Maßnahmen zu einer nachhaltigen Digitalisierung

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete und Minister,

wir möchten mit dieser Eingabe Forderungen für eine nachhaltige Digitalisierung formulieren. Im Zentrum eines "Fortschrittsprojektes" der zukünftigen Bundesregierung stehen die Bewältigung der Klimakrise, der Digitalisierung und der Pandemie (Gesundheitspolitik). Ministerpräsident Kretschmann stellt ein nachvollziehbares Kriterium auf. In der Stuttgarter Zeitung wird er zitiert:

  • "Wir brauchen Leitplanken, um den Marktkräften eine Richtung zu geben" ... Wer behaupte, es gehe ohne Rahmen und Regeln, der habe das Wesen der Marktwirtschaft nicht kapiert. "Der setzt nicht auf die ökologische und soziale Marktwirtschaft, sondern auf eine turbokapitalistische Mach-was-du-willst-Wirtschaft" (20.09.2021).

1. Digitalisierung und Klimakrise

In der Koalitionsvereinbarung müssen für die digitale Transformation diese Leitplanken formuliert werden. Dazu ist eine Identifizierung der Risiken erforderlich, die der WBGU (Wissenschaftlicher Beirat globale Umweltveränderungen der Bundesregierung) formuliert:

  • „Nur wenn der digitale Wandel und die Transformation zur Nachhaltigkeit konstruktiv verzahnt werden, kann es gelingen, Klima- und Erdsystemschutz sowie soziale Fortschritte menschlicher Entwicklung voranzubringen. Ohne aktive politische Gestaltung wird der digitale Wandel den Ressourcen- und Energieverbrauch sowie die Schädigung von Umwelt und Klima weiter beschleunigen.“[1]

Der WBGU-Bericht analysiert als Worst-Case-Szenario, dass die Digitalisierung durch ihren massiven Energie- und Ressourcenverbrauch zum Brandbeschleuniger der Klimakrise wird, als Best-Case-Szenario kann sie bei der Bewältigung der Krise helfen. Das letztere aber nur, wenn der Staat regulierend eingreift, was bisher nicht der Fall ist.[2] Wir fordern deshalb, dass auf der Grundlage des WBGU-Gutachtens, der Positionspapiere des WFC (World Future Council), der Naturfreunde, der Robert-Bosch-Stiftung und aktuell im Wall Street International Magazine in der Koalitionsvereinbarung die ökologischen Risiken benannt und Lösungsmöglichkeiten formuliert werden.[3] Angesichts der Klimakrise sollte zu jedem Digitalprojekt ein ökologischer Fußabdruck verpflichtend für seine Zulassung werden.

2. Digitalisierung und Datenschutz

Die menschliche Privatsphäre ist durch das Grundgesetz geschützt. Doch unsere Daten, die wir durch die Nutzung digitaler Geräte produzieren, sind inzwischen Rohstoff für Konzerne wie Google, Microsoft, Apple, Amazon, Telekom und Vodafone. In dieser Sekunde werden durch BigData  6 Millionen Vorhersagen von menschlichem Verhalten von diesen Konzernen erstellt. Smart Home und Steuerung der Lebensprozesse in der Smart City beruhen auf BigData. Dafür bekamen die Smart City-Projekte 2018 den BigBrother Award.[4] Unser digitales Profil wird als Ware für Werbung, politische Beeinflussung und Überwachung gehandelt. Vor der kommerziellen Ausbeutung persönlicher Daten schützt die DGSVO ungenügend, das digitale Profiling für kommerzielle Zwecke muss zum Schutz der Privatsphäre verboten werden. Digitalisierung muss im Interesse des Gemeinwohls geschehen und nicht für Profit und Überwachung. Der Koalitionsvertrag muss auf die Warnungen des Leiters des Technikfolgenausschusses des Bundestages, Prof. A. Grunwald, eine Antwort geben:

  • "Aus dieser Infrastruktur, die um uns herum entstanden ist, noch einmal rauszukommen, noch umzusteuern, das wird schwer. Und noch eins: Zu keiner Zeit in der Menschheits­geschichte hat es derart gute Bedingungen für eine totalitäre Diktatur gegeben wie heute. Was Hitler an Propaganda-Möglichkeiten, was die Stasi an Überwachungs­apparat hatte, ist Kinderkram gegen das, was heute möglich ist".[5]

3. Digitalisierung und Bildung

Der Digitalpakt Schule mit dem Ziel, bereits ab den KiTas digitale Medien einzusetzen, widerspricht pädagogischen Kriterien. Es widerspricht dem humanistischen Menschenbild und dem humboldtschen Bildungsideal, wenn Bildung verzweckt wird. In der Kleinkinderziehung, in Vorschulen,  in der KiTa erfolgt eine zweckfreie Persönlichkeitsentwicklung, eine breite Entfaltung der Talente und Potentiale. Das ist ein Sozialisationsprozess, der sich in der Gemeinschaft und im schöpferischen Spiel entwickelt. Kinder müssen in Kita und Grundschule eine eigene Vorstellungskraft, gedankliche Abstraktions­fähigkeit durch Be-Greifen, feinmotorischen, körperlich-sinnlichem Lernen, durch Anfassen, Machen, Basteln, dazu die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen und Schreiben und soziales Miteinander entwickeln. Das sind Voraussetzungen für eine Medienmündigkeit und Ausbildungsreife. Die BLIKK-Studie der Bundesregierung, Studien der Krankenkassen und die ersten Auswertungen des Homeschooling warnen vor Risiken der frühen Mediennutzung für eine gesunde Entwicklung der Kinder, insbesondere vor Sucht, Adipositas, Kurzsichtigkeit, Störungen der sensomotorischen Integration und damit auch der Gehirnentwicklung.[6] 

Die Schulen und Kitas dürfen nicht zum Absatzmarkt für Konzerne werden. Laptops und Algorithmen können Erzieher:innen und Lehrer:innen nicht ersetzen. Lernen und Bildung brauchen Beziehung. Kein Mensch lernt digital. Kommen digitale Instrumente als Hilfsmittel zum Einsatz, ist entscheidend, wer die pädagogischen Kriterien bestimmt und was mit den Daten geschieht.

Bei der Digitalisierung in den Bildungseinrichtungen darf die Ungleichheit der Chancen durch die bestehende Konzeptionslosigkeit nicht noch verstärkt werden. Chancengleichheit braucht vor allem mehr Lehrer:innen. Als Grundlage empfehlen wir die Positionspapiere des Philologenverbandes Baden Württemberg "Digitalisierung im Bildungsbereich" (2019) und des Bündnisses für humane Bildung "Vier Perspektiven – eine Botschaft für die Bildungspolitik. Digitale Medien im Kreuzfeuer der Kritik" (2020).[7] Die Positionierung des Philologenverbandes sollte sich in der Koalitionsvereinbarung widerspiegeln:

  • "Zusammenfassend kann man sagen, dass übertriebene Erwartungen an die Digitalisierung auf den Boden der Realität geholt werden müssen. Bildungshypes scheitern regelmäßig. Sie haben sich historisch gesehen immer mehr oder weniger als Flops erwiesen: Operationalisierte Lernziele und maschinengestütztes Lernen in den 1960ern, Sprachlabore und Filmeinsatz in den 1970ern, Video in den 1980ern, fächerübergreifender Unterricht und konstruktivistische Lerntheorien seit den 1990ern, Interneteinsatz seit den 2000ern und nun Digitalisierung. Die in vergangene didaktische Moden gesetzten Hoffnungen sind regelmäßig enttäuscht worden. Wer weiß also, ob wir in, sagen wir, fünf Jahren noch über Tablet-Klassen reden werden – vielleicht sind dann 3-D-Brillen oder ganz andere Geräte der nächste Hype.
  • Insofern ist beim Thema Digitalisierung Vorsicht, Maß und Mitte angebracht: Wo Digitalisierung dem Erziehungs- und Bildungsauftrag nachweislich nützt, ist sie hoch willkommen. Aber auch nur dort. Der unreflektierte flächendeckende Einsatz digitaler Geräte ist eine Verschwendung wertvoller Ressourcen, die sinnvoller in Lehrerstellen, eine Verringerung von Deputat und Klassenteiler, also in mehr Zeit der Lehrkräfte für die Schüler, investiert werden sollten."

4. Digitalisierung und Gesundheit 

Schnelles Internet gehört zur Daseinsvorsorge und ist eine Hauptschlagader des Wirtschaftslebens. Deshalb muss ein lückenloser Glasfaserausbau schnellstens verwirklicht werden. Die mobile Indoor-Versorgung über Sendemasten ist unökologisch, darauf weist ein Gutachten des UBA hin.[8] Sie gefährdet aber auch die Gesundheit. Die WHO hat die Strahlung der mobilen digitalen Geräte als möglicherweise krebserregend eingestuft, wie Autoabgase. Forschungen weisen nach, dass die Strahlung Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen und Fruchtbarkeitsstörungen auslösen kann.

Deshalb muss eine Politik der Strahlenminimierung mit bereits entwickelten Techniken wie der Trennung der Indoor- und Outdoor-Versorgung, Roaming und der Anwendung der optischen Kommunikation (VLC) vor allem in Schulen, realisiert werden, nach dem Grundsatz "Mehr Daten mit weniger Strahlung". Der 5G- , sowie der bereits geplante 6 G-Ausbau und die WLAN-Ausstattung der Schulen dürfen nicht ohne Technikfolgenabschätzung erfolgen. In der Koalitionsvereinbarung sollte diese Verpflichtung festgelegt werden.  Ein wissenschaftlicher Dienst des EU-Parlaments warnt: 

  • „Zusammen mit der Art und Dauer der Exposition scheinen Eigenschaften des 5G-Signals wie das Pulsieren die biologischen und gesundheitlichen Auswirkungen der Exposition zu verstärken, einschließlich der DNA-Schäden, die als Ursache für Krebs angesehen werden.“[9]

Wir fordern die Koalitionäre auf, die folgenden Dokumente der wissenschaftlichen Gremien des Europaparlaments und des Österreichischen Parlaments zur Grundlage des weiteren Mobilfunkausbaus und einer Neufestlegung der Grenzwerte[10] zu machen:

  • Bericht des Science and Technology Options Assessment (STOA) Komitee des Europaparlamentes, das sich mit der Technikfolgenabschätzung befasst. Die STOA veröffentlichte im Juni 2021 die Studie "Gesundheitliche Auswirkungen von 5G. Aktueller Kenntnisstand über die mit 5G verbundenen karzinogenen und reproduktiven Entwicklungsrisiken, wie sie sich aus epidemiologischen Studien und experimentellen In-vivo-Studien ergeben". [11]
  • EPRS | European Parliamentary Research Service. Autor: Miroslava Karaboytcheva, Members' Research Service PE 646.172, February 2020: "Briefing. Effects of 5G wireless communication on human health"[12].
  • Bericht an das Österreichische Parlament zur 5G-Technikfolgenabschätzung (TAB) "5G-Mobilfunk und Gesundheit. Die aktuelle Einschätzung des Evidenzstandes zu möglichen Gesundheitsrisiken von elektromagnetischen Feldern des Mobilfunks durch anerkannte wissenschaftliche Gremien".[13]

Sehr geehrte Koalitionäre,

wir erwarten von der nächsten Bundesregierung einschneidende Maßnahmen gegen das Voranschreiten der Klimakatastrophe. Das beinhaltet auch die Anerkennung der Risiken der Digitalisierung, wie sie von Expertengruppen identifiziert werden, als Voraussetzung für Maßnahmen, die verhindern, dass die Digitalisierung zum Brandbeschleuniger der Klimakatastrophe wird. "Wir brauchen Leitplanken, um den Marktkräften eine Richtung zu geben"(W. Kretschmann), und diese sollten in der Koalitionsvereinbarung festgelegt werden.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Jörn Gutbier, Vorsitzender diagnose:funk

P.S. Zu den vier Themen dieser Eingabe finden Sie weitere Belege und Quellen auf der Homepage www.digitales-wunderland.de

Quellen:

[1] https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/unsere-gemeinsame-digitale-zukunft

[2] diagnose:funk (2019): WBGU: Weckruf zur Digitalisierung. Kritik an fehlender gesellschaftlicher Debatte, https://www.diagnose-funk.org/1377

[3] World Future Council (2021): Die Auswirkungen des 5G Netz-Ausbaus auf Energieverbrauch, Klimaschutz und die Einführung weiterer Überwachungstechniken. Analyse von Dr. Matthias Kroll. https://www.diagnose-funk.org/1718

Naturfreunde (2021): Warum Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation zusammengedacht werden müssen. Positionspapier der Naturfreunde Deutschlands. https://www.diagnose-funk.org/1714

Felix Sühlmann-Faul, Stephan Remmler: Der blinde Fleck der Digitalisierung, oekom, 2018, Gutachten für die Robert-Bosch Stiftung

Wall Street International Magazine: "Energy policies in the hyperconnected era: 5G's environmental paradox." https://wsimag.com/science-and-technology/67085-energy-policies-in-the-hyperconnected-era, 29.09.2021

[4] https://bigbrotherawards.de/2018/pr-marketing-smart-city

[5]  BAUCHMÜLLER, M / BRAUN, S:  Die Leute merken nicht mehr, wie fragil das System ist; Interview mit dem Leiter des TAB des Bundestages Armin Grunwald; Süddeutsche Zeitung, 29.01.2018

siehe auch: Armin Grunwald: Der unterlegene Mensch, München, 2019, S. 187 ff

[6] Eine Auswertung des Forschungsstandes enthält das Buch: Lankau, R. (2021): Autonom und mündig am Touchscreen. Für eine konstruktive Medienarbeit an der Schule“ (Beltz)

[7] https://phv-bw.de/wp-content/uploads/2019/10/images_download_2019_PhV_BW-Positionspapier__Digitalisierung__WEB.pdf

https://www.aufwach-s-en.de/2019/05/digitale-medien-im-kreuzfeuer-der-kritik/

[8] diagnose:funk (2020): Ist 5G der Weg zu einer umweltschonenden Mobilfunk-Infrastruktur? Das eigene Amt widerspricht der Ministerin! https://www.diagnose-funk.org/1642

[9] EPRS | European Parliamentary Research Service. Autor: Miroslava Karaboytcheva Members' Research Service PE 646.172, February 2020: "Briefing. Effects of 5G wireless communication on human health". https://www.diagnose-funk.org/1530

[10] diagnose:funk (2021): US-Studie rechnet vor: Mobilfunk-Grenzwerte hundertfach zu hoch! https://www.diagnose-funk.org/1749

diagnose:funk (2019): Der Grenzwertbluff: "Unbedenklich - die Grenzwerte werden eingehalten!" https://www.diagnose-funk.org/1375

[11] diagnose:funk (2021): 5G: EU-Technikfolgenabschätzung: Nachgewiesene Risiken erfordern einen Ausbaustopp (Moratorium). STOA legt 175-seitigen Review vor. https://www.diagnose-funk.org/1740

[12] https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=1530

[13] diagnose:funk (2020): Österreich: Parlamentsbericht "5G-Mobilfunk und Gesundheit" warnt vor Risiken. https://www.diagnose-funk.org/1532

Artikel veröffentlicht:
01.10.2021
Autor:
diagnose:funk
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