Vorsorgeprinzip und bessere Forschung

WHO-Einstufung: Wissenschaftler im Interview
In einem Interview mit der Daily News and Analysis (DNA) äußert sich Darius Leszczynski zur Einstufung der Handystrahlung durch die WHO. Leszczynski ist einer der angesehensten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Hochfrequenz, er leitete über viele Jahre die finnische Strahlenschutzkommission.

In seinem Labor spezialisierte er sich auf biochemische Stressreaktionen (Proteom-Analyse), ausgelöst durch Mobilfunkstrahlung. Offensichtlich auf Druck der Industrie wurden seinem Labor die Gelder entzogen. Er war Mitglied in der IARC- Arbeitsgruppe der WHO, die die Strahlung als möglicherweise krebserregend einstufte. Im Interview berichtet er, wie dieser Beschluss im Jahr 2011 zustande kam, warum auf Grund neuer Erkenntnisse eine Höhergruppierung zu wahrscheinlich krebserregend notwendig sei. Er schildert die Umstände, die zur Schließung seiner Forschungseinrichtung führten, warum die ICNIRP, die die Grenzwerte festlegt, Teil der Lobby ist und warum WLAN an Schulen verboten werden müsste.

Leicht gekürzte Übersetzung des Informationsportals www.elektrosmognews.de aus dem Englischen, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung (maßgeblich ist das Original.)

1. Frage: Wieso wurde Handy-Strahlung als karzinogen der Gruppe 2B eingestuft, basierend auf wachsender Gliom-Gefahr, einer bösartigen Art von Gehirntumor durch die International Agency for Research on Cancer (IARC) und der WHO?
Die Zahl der Mobilfunkanschlüsse wird auf 5 Milliarden weltweit geschätzt. Mit steigender Besorgnis über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hat die IARC im Jahr 2010 einunddreißig Experten eingeladen, Beweise mit krebserzeugender Wirkung von Handy-Strahlung zu bewerten. Die IARC versammelte Experten am Hauptsitz in Lyon, Frankreich, in einer Sitzung, die zwölf Tage im Jahr 2011 dauerte. Die Experten teilten sich die komplexe Aufgabe der Durchsicht der Expositionsdaten, der Studien von Krebs beim Menschen, der Studien von Krebs bei Versuchstieren, der mechanistischen und andere relevante Daten. Es wurde gruppenweise getrennt und zusammengearbeitet, um viele hundert Studien zu sichten. Nach intensiven Beratungen haben wir uns auf die 2B Klassifikation geeinigt.

2. Frage: Auf der einen Seite sagen die Betreiber von Basisstationen und die Industrie-Beteiligten, dass Handy-Strahlung nicht zu Krebs führt, auf der anderen Seite vertreten die Bewohner oder Aktivisten einen Vorsorge-Standpunkt, indem sie sagen, dass es Krebs verursachen kann. Warum gibt es keine Klarheit?
Die IARC-WHO-Klassifikation der Handy-Strahlung wird von der Industrie falsch dargestellt. Die Klassifizierung von Handy-Strahlung als "möglicherweise karzinogen für den Menschen" bedeutet, dass es genügend Studien gibt, die zeigen, dass sie vielleicht Krebs verursacht und dass wir dringend mehr Forschung brauchen, um diese Frage zu klären. Der stärkste Beweis, dass vielleicht Krebs verursacht wird, kommt aus drei epidemiologischen Studien. Im Jahr 2011 standen zwei Gruppen von Studien zur Verfügung – die EU-​​Interphone-Studie und eine Reihe von Studien der Lennart Hardell-Gruppe in Schweden. Kürzlich wurde noch die CERENAT-Studie aus Frankreich im Jahr 2014 veröffentlicht, sie zeigte, dass Personen bei Handy-Benutzung von mehr als zehn Jahren und für eine halbe Stunde pro Tag ein höheres Risiko für die Entwicklung von Gehirntumoren haben. In der Tat reichen jetzt die Beweise aus, um Handy-Strahlung als wahrscheinliches Karzinogen zu betrachten – also die Gruppe 2A der IARC-Skala ( Kanzerogenität) zu wählen.

3. Frage: Könnten Sie Ihre Arbeit über Handy-Strahlung beschreiben? Haben Sie gefunden, dass es negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit gibt und wenn ja, in welcher Weise?
Unsere Forschung hat gezeigt, dass menschliche Zellen, die im Labor der Handy-Strahlung ausgesetzt wurden, eine Reihe von biochemischen Reaktionen in ihnen als "Stress-Reaktion" aktivieren, was bedeutet, dass die lebenden Zellen Mobilfunkstrahlung als potenziell gesundheitsschädliche Substanz erkennen. Stressreaktionen sind Signale, die die lebende Zelle von allen möglichen Schäden schützen sollen. In der von uns durchgeführten Studie von 2008 wurde eine kleine Fläche der Haut des menschlichen Unterarms an zehn Freiwilligen den GSM-Signalen für eine Stunde ausgesetzt. Danach wurden Teile der Haut, die der Strahlung ausgesetzt waren und solche der unbestrahlten Haut gesammelt und einer "Proteom-Analyse" unterzogen. Darin wurden alle Proteine ​​aus den Hautproben entnommen und die Mengen der verschiedenen Arten von Proteinen von bestrahlten und unbestrahlten Hautproben verglichen. Nach der Analyse von fast 580 Proteinen​ identifizierte wir acht Proteine, die statistisch signifikant beeinflusst waren. Wir haben festgestellt, dass die Menge der verschiedenen Proteine nach der Bestrahlung verändert waren. Nach der Gewinnung dieses Ergebnisses in der Pilot-Studie an zehn Freiwilligen wollten wir eine größere Studie mit 100 Probanden ab 2009 durchführen. Diese Studie kam aufgrund mangelnder Finanzierung und dem Widerstand der Interessengruppe der Telekom-Industrie nicht zustande.

4. Frage: Warum konnte die Regierung die Mittelsperre nicht sanktionieren? Was ist passiert?
Meine Laborstudien über die Auswirkungen von Handy-Strahlung auf die menschliche Gesundheit begannen im Jahr 1999. Mein Labor, das von der Regierung getragen war, wurde in 2013 aufgrund fehlender finanzieller Mittel geschlossen, als bestimmte Handy-Hersteller und Netzbetreiber in Finnland geschlossen gegen die Langzeit-Studien am Menschen opponierten. Wir erhielten Zuschüsse von der Regierung, um Studien durchzuführen, aber trotz der positiven Forschungs-Fortschritte wurde unsere Finanzierung gestoppt. Wir wurden von der Finanzierung abgeschnitten, weil die Telekom-Industrie dagegen war. Während der Großteil der Finanzierung solcher Forschungsprojekte aus Steuergeldern erfolgt und die Industrie-Mittel nur ein Teil des Geldes ausmachen, wird der Rat der Branche bei der Sanktionierung der Mittel von der Regierung hoch bewertet.

5. Frage: Wie viele Mittel wurde in den letzten 15 Jahren aufgewendet und wie viel mehr Mittel wären erforderlich, um Ihr Studium zu einem echten Abschluss zu bringen?
Ich habe Auswirkungen der Handy-Strahlung für den finnischen Strahlenschutz und die nukleare Sicherheitsbehörde untersucht. Meine Arbeitsgruppe hat in einem Zeitraum von 15 Jahren über eine Million Euro aufgewendet. Einige Personen in der finnischen Bürokratie haben beschlossen, dass die Grundlagenforschung an die Universitäten gehört und damit die Grundlagenforschung in den Labors der von der Regierung betriebenen Institute beendet, um Geld für das Jahr 2013 zu sparen. Die Studie von 2009 war für drei Jahre Dauer geplant und brachte die Einschreibung von 100 menschlichen Freiwilligen mit sich. Es gab eine sehr reale Möglichkeit der Sicherung der Mittel aus dem EU-Forschungsprogramm, aber das in Anspruch zu nehmen wurde meiner Forschungsgruppe nicht erlaubt. Um die abrupt gestoppte Studie am Menschen fortsetzen zu können, würden wir einige Viertel Millionen Euro brauchen.

6. Frage: Glauben Sie, dass die von dem indischen Telekommunikationsministerium im September 2012 bei 450 mW/m2 (900 MHz) für elektromagnetische (EMF)-Strahlungsdichte festgesetzten Standards, die ein Zehntel von dem betragen, was von der Internationalen Kommission für nichtionisierenden Strahlenschutz (ICNIRP) vorgeschrieben wird, Maßstab genug ist, wenn die Regierung im September 2012 zugab, dass 95% der Basisstationen unter den überarbeiteten Normen von 450 mW/m2 Strahlung lagen? Auch wenn die meisten Sende-Türme deutlich unter den zulässigen Grenzen liegen, was ist dann die Logik hinter dem Beschluss des Telekom-Ministeriums für die verordnete Senkung von 4500 mW/m2 auf 450 mW/m2?
ICNIRP ist eine Organisation von Wissenschaftlern, die behaupten, dass sie in ihren wissenschaftlichen Meinungen unabhängig sind. Allerdings gibt es ein großes Problem: ICNIRP wählt seine Mitglieder in der Weise aus, die vergleichbar mit "Privatclub"-Praktiken ist: Die jeweils vorhandenen Mitglieder des ICNIRP wählen die neuen Mitglieder aus. Dieses Modell führt zu der Situation, in der alle ICNIRP-Mitglieder die gleiche Meinung über die Gefahren der Handy-Strahlung vertreten. Wenn alle ICNIRP-Wissenschaftler die gleiche Meinung haben, besteht keine Notwendigkeit für eine wissenschaftliche Debatte - es gibt einen vorher getroffenen Konsens. Dies war in der WHO-IARC Bewertung nicht so, da dort Wissenschaftler mit unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Meinungen eingeladen waren.

Die ICNIRP-Sicherheitsnormen für den Strahlenemissionen von Handys und Basisstationen reichen nicht aus, um die Menschen zu schützen. Die IARC-Klassifizierung von Handy-Strahlung als mögliches Karzinogen lässt die Schutzansprüche der aktuellen ICNIRP-Sicherheitsstandards unwirksam werden. In den epidemiologischen Fall-Kontroll-Studien, die von der IARC (Interphone und Hardell) bewertet wurden und der nach der IARC- Bewertung veröffentlichten CERENAT-Studie, verwenden erwachsene Teilnehmer reguläre Handys. Diese Handys wurden so gebaut, dass sie ICNIRP- Sicherheitsstandards erfüllen. Allerdings führte die intensive Verwendung solcher "ICNIRP-Sicherheits-Telefone" für einen Zeitraum von über 10 Jahren zu einem erhöhten Risiko von Gehirntumoren. Dies bedeutet, dass die aktuellen Sicherheitsstandards nicht ausreichend die Benutzer von Handys schützen und dies auch Zweifel über die Gültigkeit der gesetzten Sicherheitsstandards für Basisstationen aufwirft. Von dem, was ich von den Bildern von Indien, als auch das, was ich beim Besuch in Indien gesehen habe, gibt es zahlreiche Situationen, in denen es zu viele Antennen in großen Clustern angeordnet gibt. Ob solche Cluster die aktuellen indischen Sicherheitsstandards erfüllen, muss geprüft werden. Es liegt an den lokalen Politikern und der Regierung sicherzustellen, dass Sicherheitsstandards eingehalten werden und festzustellen, ob etwa vorhandene Sicherheitsstandards fragwürdig sind.

7. Frage: Bestimmte australische Schulen verbannen Wi-Fi aus ihren Gebäude; was ist die Grundüberlegung hinter diesen Schritten?
Es gibt eine Diskussion in Australien, Kanada, USA und Europa über die Möglichkeit von Schäden, die durch Wi-Fi [= WLAN] verursacht werden. Einige Schulleiter verbieten den Betrieb von Wi-Fi und folgen damit dem Druck, der von den Eltern der Kinder ausgeht. Die Graswurzel-Bewegungen von Wi-Fi betroffener Eltern in den Schulen sind in manchen Fällen sehr stark. Für Wi-Fi-Strahlung gilt ähnlich der von Handys und Mobilfunkmasten emittierten Strahlungen, dass sie als "möglicherweise" krebserzeugend eingestuft werden.
Wir können mit Recht darüber besorgt sein, was mit Kindern geschehen könnte, die sehr jung sind und sieben bis acht Stunden kontinuierlich der Wi-Fi-Strahlung ausgesetzt sind. Es ist eine verantwortungsvolle Vorsichtsmaßnahme, den Wi-Fi-Betrieb in den Schulen zu verbieten. Es gibt Orte, an denen die Bereitstellung eines verkabelten Internetzugangs nicht möglich ist, wie in Bahnhöfen oder Flughäfen, aber in den Schulen ist der verkabelte Internetzugang möglich. Es gibt keine wirkliche Notwendigkeit für Wi-Fi in den Schulen

In anderen Orten, wo das Kabel-Internet nicht machbar ist, ist es auch möglich, Vorsorgemaßnahmen einzuführen. In Flughäfen oder Bahnhöfen gibt es abgeschlossene Räume, wo Menschen rauchen dürfen. Andere Reisende sind dann nicht dem Rauch ausgesetzt. Ähnliches gilt auch für die Bereitstellung von Wi-Fi-Verbindungen. Es könnten geschlossene Räume mit Wänden aus Materialien, die Wi-Fi-Strahlung nach draußen abschirmen, vorgesehen werden, wo dann ein Wi-Fi-Zugang möglich wäre, ohne Nicht-Interessierte der Strahlung unnötig auszusetzen.

8. Frage: Die WHO ist dabei einen neuen Bericht mit einer Zusammenfassung der gesundheitlichen Risiken des Hochfrequenzfelder auszuarbeiten, der im nächsten Jahr veröffentlicht werden soll. Was erwartet die Forscher-Vereinigung von dem Bericht? Was denken Sie, gibt es ist jetzt genug Beweise nach der Veröffentlichung der französischen epidemiologischen Studie aus dem Jahr 2014, dass die Einstufung von Handy-Strahlung von der Gruppe 2B zu Gruppe 2A oder Gruppe 1 verschoben werden sollte?
Der noch zu veröffentlichende WHO-Bericht hat sich um zehn Jahre verzögert. Sie warteten auf die endgültigen Ergebnisse des Interphon-Projektes und später auf die IARC-Bewertung der Kanzerogenität. Der WHO-Bericht wird alle Auswirkungen der Strahlung wie möglicherweise die Fruchtbarkeit beim Menschen und anderen Fragen der Gesundheit, nicht nur den Krebs, analysieren.

Die ICNIRP-Wissenschaftler sind in den WHO-Bericht involviert, daher kann man nicht erwarten, dass er im Wesentlichen von dem, was ICNIRP sagt, abweicht.
Die jüngste französische epidemiologische CERENAT-Studie liefert zusammen mit der Interphon- und den Hardell-Studien einen ausreichenden Beweis, um Handy-Strahlung als wahrscheinlich karzinogen zu betrachten - Gruppe 2A in der IARC-Skala auf Kanzerogenität.

9. Frage: Vor kurzem hat die Industrie eine Kampagne gestartet, die besagt, dass Strahlung von Mobilfunksendern und Mobiltelefonen nicht gefährlich ist. Sie haben in Forschern wie Dr. Mike Repacholi, den Ex-Koordinator des Bereiches Strahlung, Umwelt und Gesundheit der WHO hinzugezogen, der behauptet hat, dass es keine gesundheitlichen Gefahren gibt, die von Basisstationen- oder Handy-Strahlung ausgehen. Stimmen Sie diesen Aussagen zu?
Die Industrie beruft sich gerne auf Wissenschaftler, die ihre Produkte unterstützen und sagen, dass sie sicher sind. Daher besuchte Dr. Repacholi Indien und sprach öffentlich über die Sicherheit von Mobiltelefonen sowie von Basisstationen. Ich bin nicht mit Dr. Repacholi einverstanden. Er sagt, dass wir keine gesundheitlichen Probleme haben, die von Handy- und Basisstationen-Strahlung ausgehen und wir werden diese auch in der Zukunft nicht haben. Meiner Meinung nach reichen die wissenschaftlichen Erkenntnisse noch nicht aus zu sagen, dass Handy-Strahlung unbedenklich ist. Wir brauchen sowohl eine bessere Forschung und, für den Augenblick, die Umsetzung des Vorsorgeprinzips der Europäischen Union, bis es mehr Klarheit gibt.

Artikel veröffentlicht:
15.09.2014
Autor:
Maitri Porecha, dna, Indien
Quelle:
dna (Daily News and Analysis, Indien), vom 18. Aug. 2014

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