Brennpunkt: Grenzwerte, die von der Lobbyorgani­sation ICNIRP mit Sitz im Bundesamt für Strahlenschutz empfohlen werden, schützen nicht

Lobbysystem ICNIRP & Bundesamt für Strahlenschutz - Teil III
In diesem Brennpunkt veröffentlichen wir den Artikel von Lennart Hardell und Michael Carlberg „Gesundheitsrisiken durch hochfrequente Strahlung, einschließlich 5G, sollten von Experten ohne Interessenkonflikte bewertet werden“, der die Rolle der ICNIRP (International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection) in der Schweizer und interna­tionalen Strahlenschutzpolitik analysiert.
Titelblatt brennpunkt (mit Klick vergrößern!)Bild: diagnose:funk

Dies ist die sechste aktuelle Studie zur ICNIRP.[1] Im Juni 2020 publizierten die Europaabgeordneten Klaus Buchner und Michèle Rivasi ihren Bericht, 2019 erschien die Recherche des Journalistennetzwerkes Investigate Europe u. a. für den Berliner Tagesspiegel, 2020 erschienen die Analysen von Frank und Butler. Alle sechs Untersuchungen weisen nach, dass die ICNIRP eine Inszenierung der Indus­trie mit Hauptsitz im deutschen Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) ist.

Die ICNIRP hat es geschafft, dass in fast allen Ländern des ehemaligen Westblocks der Strahlenschutz außer Kraft gesetzt und der Mobilfunkausbau uneingeschränkt erfolgen konnte.

Prof. Lennart Hardell bei seinem Vortrag in Mainz, 2019Bild: diagnose:funk

Das Mantra aller Behörden „Machen Sie sich keine Sorgen, die Grenzwerte garantie­ren die Sicherheit der Mobilfunktechnologie“ beruht auf den Grenzwert-Empfehlungen der ICNIRP. Aber die Grenzwerte erfassen keine Langzeitwirkungen, sie berücksichtigen keine Kinder, keine Schwangeren, keine alten Menschen und keine Kranken.[2] Die Grenz­werte enthalten nach Auskunft der Bundesregierung keine Vorsorgekomponente.[3] Die Erklärung des BfS, dass bei Einhaltung der Grenzwerte die Menschen geschützt seien, entbehrt jeder Grundlage.

 

Die neuen Grenzwertrichtlinien der ICNIRP von 2020, die das BfS wiederum als Grundlage seiner Arbeit akzeptiert, sind abzulehnen. Prof. Dr. Hans-Peter Hutter (Med. Uni Wien) begründet dies:

  • „Seit langem bestimmt eine sehr kleine Anzahl von Personen eines Vereins, der sei­ne Mitglieder selbst bestimmt, die internationale Grenzwertsetzung. Indem die Beobach­tungen von Effekten im Niedrigdosisbereich als nicht gesundheitlich relevant bezeichnet beziehungsweise abgetan werden und nur thermische Effekte als einzig relevant dar­gestellt werden, werden automatisch höhere Grenzwerte abgeleitet als in irgendeinem anderen Gebiet der Umweltmedizin. Diese werden, durch die Mobilfunklobby gestützt, der Politik als ausreichend vermittelt, die das auch zufrieden zur Kenntnis nimmt, weil sie selbst davon durch den Verkauf der Frequenzen und die hohe Steuerleistung der Mobil­funkindustrie profitiert ... Die vorliegende Arbeit (gemeint sind die ICNIRP-Richtlinien 2020, d:f) sollte bestenfalls ignoriert, aber keinesfalls für internationale Grenzwert-Festlegungen herangezogen werden.“[4]

Die Analysen kommen zum gleichen Schluss:

  • Die ICNIRP ist ein „Closed-Club“ ohne demokratische Legitimation und Struktu­ren, der nur Mitglieder mit industriekompatibler Meinung aufnimmt.
  • Die ICNIRP hat ein selbstreferentielles System geschaffen, das darin besteht, dass in nationalen Schutz- und Beurteilungsgremien weltweit, in großen europäischen Staaten, der Europäischen Union und der WHO ICNIRP-Mitglieder sitzen, die sich auf ihre eigenen Gutachten berufen.

Die ICNIRP liefert der Industrie die Argumente zur Vermarktung der Mobilfunktechnik, in dem Studien, die Gesundheitsrisiken nachweisen, entweder nicht in die Bewertung aufgenommen, die Ergebnisse angezweifelt oder verzerrt dargestellt werden.

Bereits 2017 hat Sarah Starkey in ihrer Analyse nachgewie­sen, in welchem Umfang die ICNIRP die Studienlage ver­fälscht.[5] Buchner/Rivasi, Hardell/Carlberg, Butler und Frank liefern dafür neue Fakten, sowohl über die personellen Ver­flechtungen, die Interessenkonflikte als auch über die Ver­fälschungen der Studienlage.

Eigentlich ist das Kartenhaus des Grenzwertbetrugs durch die ICNIRP nicht mehr zu halten. Doch Lobbyarbeit, wirtschaftliche und politische Interessen stützen es. Wie lan­ge das noch hält, hängt auch von der öffentlichen Kritik ab. Helfen Sie mit, dass die politischen Entscheidungsträger mit diesen Fakten über die ICNIRP konfrontiert werden. Treten Sie für folgende Forderungen ein:

  • Sofortige Auflösung des ICNIRP-Büros im Bundes­amt für Strahlenschutz.[6]
  • Stopp der Bundeszahlungen für die ICNIRP.[7]
  • Schluss mit der Anerkennung der ICNIRP-Grenzwerte.
  • Neubesetzung der Strahlenschutzkommissionen mit industrieunabhängigen Wissenschaftlern und Ver­tretern der Umweltverbände.
  • Neufestlegung der Grenzwerte durch eine unabhän­gige Kommission.
  • Einführung von Vorsorgewerten für Orte sensibler Nutzung[8] und neue Produkte und Dienstleistungen.

 

Publikationen von diagnose:funk zur ICNIRP und dem Bundesamt für Strahlenschutz:

diagnose:funk (2020): Wann gibt es in Deutschland wieder einen Strahlenschutz? Offener Brief mit Handlungsoptionen an die Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz, Dr. Inge Paulini. https://www.diagnose-funk.org/1566

diagnose:funk-Brennpunkt (2020): Der Kausalitäts-Betrug. Was die Mobilfunkdiskussion mit Alkohol, einem Affen und Kater zu tun hat. https://www.diagnose-funk.org/1539

diagnose:funk (2019): Behauptungen & Scheinargumente Teil III. Der Grenzwertbluff: „Unbedenklich – die Grenzwerte werden eingehalten!“ https://www.diagnose-funk.org/1375

diagnose:funk-Brennpunkt (2017): Mobilfunk – Grenzwerte entzaubert: Studie weist nach, wie Grenzwerte scheinwis­senschaftlich legitimiert werden. Übersetzung der Studie:Starkey SJ (2016): Inaccurate official assessment of radio­frequency safety by the Advisory Group on Non-ionising Radiation. Veröffentlicht in: Rev Environ Health 2016; 31 (4): 493-503 https://www.diagnose-funk.org/1163

diagnose:funk-Brennpunkt (2017): Handystrahlung und Gehirntumore. Stand der Forschung. Übersetzung der Studie Carlberg / Hardell (2017) https://www.diagnose-funk.org/1190

Quellen

[1] Klaus Buchner / Michéle Rivasi zur ICNIRP: Die Internationale Kommis­sion zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung: Interessenkonflikte, „Corporate Capture“ und der Vorstoß zum Ausbau des 5G-Netzes; https://www.diagnose-funk.org/1580, Artikel vom 19.06.2020

Harald Schumann, Elisa Simantke: Wie gesundheitsschädlich ist 5G wirklich? Europas Regierungen ignorieren die Gefahr, 15.01.2019 , Recherche von Investigate Europe im Berliner Tagesspiegel: https://www.diagnose-funk.org/1335

Hardell / Carlberg (2020): Gesundheitsrisiken durch hochfrequente Strahlung, einschließlich 5G, sollten von Experten ohne Interessenkonflikte bewertet werden, Oncology Letters 20: 15, 2020

Professor Tom Butler, University College Cork: Wireless Technologies and the Risk of Adverse Health Effects in Society: A Retrospective Ethical Risk Analysis of Health and Safety Guidelines, Working Paper, 2020, erschienen als diagnose:funk Brennpunkt.

ders.: A Report on the Non-Thermal Effects of Radio Frequency Radia­tion and the Adequacy of Health and Safety Guidelines to Protect Public Health, ohne Datum, 2020

Prof. John William Frank : Electromagnetic fields, 5G and health: what about the precautionary principle? Journal of Epidemiology and Community Health, Januar 2021, https://www.diagnose-funk.org/1660

Aktualisierung Juli 2021. Neue Analyse der Arbeitsgruppe um Hardell: Lennart Hardell, Mona Nilsson,Tarmo Koppel, Michael Carlberg (2021): Aspects on the International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP) 2020 Guidelines on Radiofrequency Radiation
Journal of Cancer Science and Clinical Therapeutics; J Cancer Sci Clin Ther 2021; 5 (2): 250-285 DOI: 10.26502/jcsct.5079117

[2] ICNIRP statement 2002, general approach, Health Phys. 82, 540-548, S. 546

[3] Bundestagsdrucksache 14/7958 (2002), S. 14, S. 18; http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/079/1407958.pdf

[4] Science Media Center, 12.03.2020: ICNIRP Richtlinien zur Exposition durch elektromagnetische Felder https://tinyurl.com/ka3ek3yh

[5] Starkey SJ (2016): Inaccurate official assessment of radiofrequency safety by the Advisory Group on Non-ionising Radiation. Veröffentlicht in: Rev Environ Health 2016; 31 (4): 493-503, übersetzt erschienen als diagnose:funk Brennpunkt.

[6] Das BfS stellt am Standort Neuherberg in Oberschleißheim der ICNIRP kostenfrei ein Büro und die koordinierende Sekretärin (derzeit Frau Dr. Gunde Ziegelberger) zur Verfügung, die auch gleichzeitig die Leiterin der Abteilung Wirkungen & Risiken NIS (WR 4) ist.

[7] Die Bundesregierung zahlt jährlich ca. 100.000 € an die ICNIRP. Das entspricht ca. 2/3 ihres Jahresbudgets. Im Deutschlandfunk Kultur beantwortet die BfS-Chefin Dr. Paulini im Feb. 2019 die Fragen von Philip Banse im Interview „Der zweifelhafte Umgang mit der Strahlungsgefahr“: https://t1p.de/jp9z

[8] Orte sensibler Nutzung: Wo sich Menschen i.d.R. länger als 1 Stunde aufhalten.

Publikation zum Thema

April 2021Format: DIN A4Seitenanzahl: 16 Veröffentlicht am: 22.04.2021 Bestellnr.: 244Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Grenzwerte, die von der Lobbyorganisation ICNIRP mit Sitz im Bundesamt für Strahlenschutz empfohlen werden, schützen nicht

Analyse zur Lobbypolitik der Mobilfunkindustrie in der Schweiz und international
Autor:
Lennart Hardell / Michael Carlberg
Inhalt:
Hardell/Carlberg analysieren, warum die Gesundheitsrisiken der Hochfrequenzstrahlung des Mobilfunks und der 5G-Technologie in einem Bericht einer Expertengruppe der Schweizer Regierung und in einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung der Internationalen Kommission zum Schutz vor nicht-ionisierender Strahlung (ICNIRP) ignoriert werden. Es sind Interessenkonflikte und Verbindungen zur Industrie, die zu den voreingenommenen Berichten beigetragen haben. Hardell / Carlberg analysieren dieses Kartell von Einzelpersonen, die die Bewertungsausschüsse monopolisieren, industriefreundliche Grenzwerte festlegen und das Null-Risiko-Paradigma stärken.
Artikel veröffentlicht:
27.04.2021
Artikel aktualisiert:
22.07.2021
Autor:
diagnose:funk
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